M. Kempe u.a.: Die Collegia der Insulaner

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Titel
Die Collegia der Insulaner, Vertraulichen und Wohlgesinnten in Zürich 1679–1709.


Autor(en)
Kempe, Michael; Thomas Maissen
Erschienen
Zürich 2002: Neue Zürcher Zeitung - Buchverlag
Anzahl Seiten
453 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Sebastian Brändli

Zürich ist bekannt als Hort der Frühaufklärung, verbreitet ist die diesbezügliche Bezeichnung als «Limmat-Athen». Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema hat Tradition, die Literatur zur Zürcher Aufklärung ist umfangreich und kreiste oft um die Aktivitäten und Personen des so genannten «Bodmer -kreises» (Johann Jakob Bodmer, 1698–1783, Professor an der Hohen Schule und Herausgeber diverser Aufklärungsschriften) sowie um den Besuch meistens alpenquerender deutscher Gelehrter. Die Schwerpunkte der früheren Forschung bedeuteten meistens Bevorzugung philosophisch-germanistischer Zugänge.

Nicht zuletzt der Paradigmenwechsel, der mit den Bildern von «Aufklärung als Prozess» (Vierhaus) oder «Aufklärung als Kommunikation» (Bödeker) verbunden ist, brachte die Geschichtswissenschaften wieder stärker ins Themenfeld und eröffnete neue Forschungsperspektiven, vor allem aus der Warte der Sozialund Kulturgeschichte heraus. Diesem Weg sind die beiden Autoren verpflichtet. Sie fusionieren in der Studie nicht nur als Personalunion ihre je eigenen methodischen Grundlagen und Forschungsperspektiven, sondern versuchen auch, die ganze Breite des heute gängigen Methodenarsenals am Gegenstand zu applizieren. Sozialgeschichte und neuere Kulturgeschichte werden dabei bereits so selbstverständlich zum Standard gerechnet, dass über der soliden Basis die inhaltliche Analyse der wissenschaftlichen Diskurse manchmal fast zu wenig mit der gesellschaftlichen Analyse vernetzt erscheint bzw. fast gar zu eigendynamisch geistesgeschichtlich gerät.

Das Buch besteht aus zwei Teilen, indem der Anhang mit über 150 Seiten eine eindrückliche Dokumentation des in der Zentralbibliothek liegenden Quellenmaterials der drei Gesellschaften darstellt; besonders interessant sind dabei die kollektivbiographischen Daten sowie die Liste aller in den Gesellschaften (wöchentlich) gehaltenen Vorträge. Der Textteil des Werks beginnt mit einer umfassenden Analyse der städtischen Gesellschaft und ihrer Entwicklung, um dann die Gründung und Existenz der drei zeitlich aufeinander folgenden Collegia zu beschreiben. Dabei werden die Mitglieder (Zusammensetzung, Kurzbiographien der wichtigsten Exponenten) und die Organisation (Statuten) eingehend geschildert. Die zweite Hälfte des Textteils ist inhaltlichen Fragestellungen gewidmet unter den Stichworten: Theologie und Kirche, Naturgeschichte und Naturphilosophie, Geschichte und Politik, Reformbewegung des Jahres 1713.

Sozietäten aller Art als Ausdruck der kommunikativen Aufklärung sind seit längerem Gegenstand einschlägiger Untersuchungen. Eher zu kurz kamen dabei Einzelmonographien, die sich vertieft mit einzelnen Sozietäten in ihrem gesellschaftlichen Umfeld auseinandersetzen. In diesem Sinne ist die Zürcher Studie vorbildhaft. Die Autoren arbeiten akribisch nicht nur die lokale Situation im ausgehenden 17. Jahrhundert in Zürich heraus, sondern wenden sich in auslassender Breite und angemessener Tiefe den drei Collegia zu. Oft wird auch ein vergleichender Blick auf verwandte europäische und schweizerische Sozietäten gewagt, wo es neben Parallelen auch Kontrastbeispiele gibt. Deren Gleich- oder Anderssein wird meistens durch kurze Hinweise auf Interdependenzen oder unterschiedliche politische Konstellationen erklärt. Im Zentrum der Argumentation – darauf verweist bereits der Untertitel: Die ersten deutschen Aufklärungsgesellschaften zwischen Naturwissenschaften, Bibelkritik, Geschichte und Politik – steht als Quintessenz die Annahme, die drei angesprochenen Zürcher Sozietäten seien nicht nur äusserst frühe Beispiele, sondern pionierhaft die ersten. Diese Argumentation verlangt nach trennscharfen Definitionen bzw. Kriterien, die die Zürcher Collegia tatsächlich von den im 17. Jahrhundert bereits bestehenden frühneuzeitlichen Sozietäten abheben, die im Übrigen bereits von den Promotoren der Gesellschaften selber als Vorbilder gewertet wurden (S. 64). Diesen Anspruch kann dasWerk nur ungenügend erfüllen. Nach Ansicht des Rezensenten ist die Klassierung im Superlativ allerdings auch nicht weiter erforderlich – jede der bekannten frühen Gründungen kann in bestimmten Aspekten Pioniercharakter für sich beanspruchen. Vielmehr genügte es einfach den Umstand zu analysieren, dass die Zürcher Collegia sehr frühe Gesellschaftsgründungen sind, deren Besonderheit vor allem darin besteht, dass die nicht-theologischen Mitglieder – etwa die Hälfte des Bestandes – als junge Vertreter der freien Berufe alle potentielle Vertreter des Zürcher Regiments waren. Das gab den Zürcher Collegia in der Tat eine unikale Note, die als spezifisches Verhältnis zur städtischen Politik definiert werden kann. Diese Einzigartigkeit war nicht nur der republikanischen Zunftverfassung und der faktischen Souveränität des Zürcher Stadtstaates geschuldet, sondern auch der Kleinheit des Staates und dem Fehlen einer eigentlichen Universität, in dem diese Rahmenbedingungen insbesondere die Entwicklung zu spezialisierten Berufsrollen wie Universitätslehrer oder politische Akteure (Berufspolitiker) hemmten und so den Gesellschaften allgemein-propädeutische Funktionen betreffend staatlicher Differenzierung ermöglichten. Diese Bildungsleistung zuhanden einer sich zunehmend differenzierenden Staatsverwaltung stellen die Autoren gut dar, subsumieren sie indes etwas ungenau unter den Begriff Professionalisierung.

Das Buch ist flüssig geschrieben, gut redigiert, schön – vielleicht etwas brav – illustriert. Es konzentriert sich auf drei wichtige Untersuchungsobjekte und stellt diese eindrücklich dar. Für die gesellschaftliche Einbettung ziehen die Autoren wichtige jüngere Monographien zur Zürcher und Schweizer Geschichte zu Rate (Rudolf Braun, Ulrich Pfister); die Einbettung gelingt indessen nicht in allen Aspekten gleich gut. Besonders anschaulich gelingt die Verknüpfung der Gesellschaften mit der Staatskrise von 1713; besonders materialreich sind die Bezüge zur europäischen, insbesondere zur für das damalige Zürich wichtigen niederländischen Geschichte.

Zitierweise:
Sebastian Brändli: Rezension zu: Michael Kempe, Thomas Maissen: Die Collegia der Insulaner, Vertraulichen und Wohlgesinnten in Zürich 1679–1709. Zürich, NZZ, 2002. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 55 Nr. 3, 2005, S. 344-345.